Reisetagebuch, 6. Teil: Ab in den hohen Norden: Masoala
Maeva* ist Praktikantin bei ADES und aktuell daran, in Madagaskar ihre Masterarbeit zu schreiben. Sie gibt uns Einblicke in ihre Erfahrungen.
Es ist jetzt Anfang Mai, und erst Ende Juni reise ich wieder ab. Bisher hatte ich ja das Glück, mit Luc schon so einiges gesehen zu haben und reisen zu dürfen, von Toliara bis Tana. Jetzt ändert sich meine Richtung, und der Mai bringt mich hoch in den Norden. Und wo könnte man besser beginnen als in Maroansetra und Masoala, im grünen Herzen von Madagaskar?
Doch so richtig losgehen will es am Montag, dem 6. Mai, wohl doch noch nicht. Erstmal stimmt die Benachrichtigung, die ich vor einigen Wochen bekam, dass der Flug vorverlegt worden sei und jetzt schon um 9:00 Uhr statt um 14:00 Uhr abfliegen würde, nicht. Und so verbringe ich schonmal die nächsten sechs Stunden wartend am Flughafen. Selbstverständlich hat der Flug auch noch Verspätung, also werden aus sechs Stunden sieben. Doch schliesslich geht es los, wir können boarden und ins Flugzeug steigen und nach etwa einer Stunde fliegen wir tiefer und machen uns bereit zum Landen über Maroansetra. Wir sinken durch die dunklen Wolken und ich sehe Regentropfen an den Scheiben. Unter mir sehe ich ein tiefes Grün, Reisfelder, Bäume und erdige Strassen. Doch komischerweise fliegt das Flugzeug weiter über sein Ziel hinaus und jetzt sind wir über dem Meer. Ich überlege, ob der Pilot vielleicht den falschen Winkel zum Landen hatte oder so, doch dann beschleunigt der Flieger auf einmal, und wir werden wieder in unsere Sitze gedrückt, als das Flugzeug wieder über die Wolken steigt. Es gibt eine 180-Grad-Drehung und ich will nicht fassen, was ich eigentlich schon ahne: Wir fliegen zurück nach Tana! Aus meteorologischen Gründen wollte unser Pilot nicht landen. Die nächste Stunde vergeht viel zu langsam, zieht sich unglaublich in die Länge, gefüttert von dem Frust und der Enttäuschung, wie auch der Unsicherheit, wie und ob ich nach Maroansetra komme. Denn nicht nur habe ich dort eine Reservierung, sondern Maroansetra ist auch der Ausgangspunkt für mein nächstes Kapitel und meine Reise durch den Norden, von Antalaha bis Diego Suarez an der nordöstlichen Küste entlang. Maroansetra liegt nämlich unterhalb der grossen Masoala-Halbinsel, einem Regenwald und Naturreservat, bevor wieder bebaute Strassen und Städte liegen. Aktuell gibt es keine Strasse durch Masoala. Es gab früher einmal eine, doch heute herrscht da nur ein Trampelpfad. Sogar die Motorräder, die sonst praktisch überall durchkommen (sie werden sogar mit Pirogen über die Flüsse gebracht), kommen hier ab einem gewissen Punkt nicht mehr durch. Also konnte ich jetzt mit etwas Hilfe einen fünftägigen Trek organisieren, mit einem Guide und Trägern, der es mir erlaubt, den Masoala-Regenwald zu Fuss bis nach Antalaha zu durchqueren. Ab da wäre ich dann wieder mit Rädern unterwegs. Aber damit ich meinen grossartigen Plan auch umsetzen kann, müsste ich schon physisch erstmal in Maroansetra ankommen! Ich werde euch die lange Wartezeit, das Diskutieren und Ausharren ersparen, und kürze etwas ab: Unser Flug wurde auf den nächsten Morgen verschoben, und nach der ungeplanten Nacht in Tana, kamen wir am Folgetag gegen Mittag endlich in Maroansetra an. Aber erst, nachdem auch der Pilot auch dieses Fluges drei Mal über dem Flugplatz kreiste!
Als wir in Maroansetra endlich über die Pistenstrasse vom Flughafen in die Stadt fahren, haben wir Glück: Zum ersten Mal seit etwa einem Monat scheint die Sonne. Und es ist atemberaubend schön. Die kleine Stadt leuchtet voller Frische und Farben, der Weg ist anfangs noch bebaut und trocken, doch je näher wir ins Zentrum und ans Meer kommen, desto mehr Wege stehen wirklich unter Wasser. Deshalb stehen die meisten Häuser hier auch auf Stelzen, und doch kommt es zu einigen sehr lustigen Szenen: Hühner, die sich gemeinsam auf einem erhöhten Sims wie auf einer Insel zusammengetan haben, Kinder, die auf den erhöhten Holzterrassen vor ihren Hütten so tun, als seien sie in einer Piroge und mit einem Stock eine für mich unsichtbare Welt paddeln, Männer, die gemeinsam alle in einer Bar sitzen – und alle mit den Füssen knöcheltief im Wasser. Hier kommt man nicht trocken durch, unmöglich, und so ziehe ich mir kurzerhand auch meine Espadrilles aus und laufe barfuss durch das zum Teil badewannenwarme Wasser am Mittag. Am Nachmittag donnert es auf einmal, und keine 10 Sekunden später schüttet es auch wirklich wieder wie aus Kübeln. Glücklicherweise kann ich mich unterstellen, da ich genau dann noch bei langjährigen Freunden zu Besuch bin. Gegen Abend öffnen sich die Wolken wieder, und wir spazieren beinahe trocken die Strassen zurück zum Hotel. Zu meinem Erstaunen komme fast trockenen Fusses zurück.
Was mich seit meiner Ankunft in Mada immer wieder aufs Neue beeindruckt, sind die vielen Kinder hier. Egal wo man hinsieht, überall sind Kinder. Von Babys bis zu Teenagern, es ist überall etwas los, und es verleiht eine sehr junge, aktive und lebendige Stimmung. Getragen im Wickeltuch auf dem Rücken ihrer Mütter, auf dem Arm der Schwester oder des Bruders, zu viert auf dem Motorrad, zu sechst im Tuk-Tuk oder im Pousse-Pousse auf dem Weg in die Schule. Sie liegen schlafend auf den Marktständen, während die Mutter Gemüse verkauft, laufen Veloreifen mit Stöcken hinterher, spielen mit Glasmurmeln oder liegen in den Armen ihrer Mütter beim Stillen. Es ist so normal, so unglaublich selbstverständlich, etwas vom Natürlichsten, das es gibt. Und es tut so gut, das zu sehen, mitzuerleben, wieder in die Echtheit und Lebendigkeit des Lebens getaucht zu werden. Ich fange selbst an, mir Fragen zu stellen über eigene Kinder und wo ich in meinem Leben stehe. Denn hier herrscht eine Lebendigkeit, die wachrüttelt und ansteckend ist. Sie ist einladend und lässt einen teilhaben oder die kollektive, gemeinschaftliche Kultur kennenlernen, die ich häufig hier in Mada wahrnehme.
Nach einer Nacht in Maroansetra (Maruansetsch ausgesprochen) geht es weiter mit dem Boot nach Masoala. Hier sind wir noch eine Nacht (vorgesehen waren zwei, danke MadaAirlines), bevor der Trek, anfangs noch mit Boot und Taxi-Moto, losgeht. Ab heute sind wir in der Begleitung von Armand, unserem Guide. Armand ist nicht nur eine Legende unter den Guides hier in Mada, er ist auch ein krasser Umweltaktivist und Whistleblower. Er hat für diverse NGOs wie WWF und UNICEF gearbeitet, war an mehreren Klimakonferenzen, darunter eine in London, und bekämpfte jahrelang die illegale Abholzung und den Export von Rosenholz. Dabei legte er sich sogar mit der Regierung an. Er ist in Masoala aufgewachsen und kennt den Regenwald wie seine Westentasche. Es ist offensichtlich, wie sehr er die Natur, die Tiere und die Biodiversität hier liebt, und es ist unglaublich beeindruckend, wie er sie schon jahrelang beschützt. Armand weiss unglaublich viel über die Menschen hier, und er findet jedes Tier. Wir sind mit ihm tagsüber und später auch noch nachts unterwegs. Ich spiele garantiert nie mit ihm „ich sehe was, was du nicht siehst“. Generell sieht er immer, was ich auch dann nicht sehe, wenn er darauf zeigt und mir versucht zu erklären, wo bei welchem braunen Baumstamm links, zwischen den zwei Lianen, hinten ein grünes Chamäleon sitzt.
Während unserer Wanderungen und zusätzlichen Besuche durch den Wald sehen wir dank ihm die Roten Vary-Lemuren, fünf verschiedene Chamäleon-Arten, viele Frösche, eine Fledermaus, Tenreks, Schlangen, seltene Vögel, und nachts findet er sogar sechs verschiedene Lemurenarten, wobei die kleinste knapp so gross wie meine Faust war, und sogar einen Uroplatus – nachts! Aber auch neben den ganzen Tieren und der unglaublichen Biodiversität ist es wunderschön hier. Die Bäume scheinen vor Leben zu tropfen, die Erde wechselt zwischen Ocker-Rot und einem warmen Braun, es gibt bis zu fünf Meter hohe Farnbäume (ja, Bäume – das sind keine Sträucher mehr, die man bei uns im Biologieunterricht unter das Mikroskop hält), Lianen drehen und schnörkeln sich an den Stämmen entlang oder hängen zwischen den Ästen, und riesige starke Wurzeln formen beinahe kleine Unterschlüpfe und ragen aus der Erde. Einmal begegnen wir einem so grossen Baum, der sicher etwa 30 Meter hoch war, mit einer Wurzel-Wand! Seine Wurzeln waren über zwei Meter hoch und erstreckten sich etwa acht Meter breit in beide Richtungen des Stammes. Dabei formte der Baum Nischen und Kurven.
Auch später, als wir aus dem geschützten Nationalpark weiter durch den Wald laufen, sehen wir unzählige bepflanzte Felder mit allen möglichen Baumarten: Litchi, Mango, Fruit à Pain, Nelken, Zimt und vieles mehr. Wusstet ihr, dass Zimt aus der Rinde der Bäume hergestellt wird? Ich wusste es nicht, und ich konnte es nicht glauben, als Armand ein bisschen von der Rinde des Baumes vor mir abschabte und mir unter die Nase hielt. Noch nie hat Zimt so gut gerochen. Und deshalb, „je crois que les plantes du monde entier sont heureuses ici“.
Ganz am Anfang noch, bevor wir ganz offiziell losliefen, beging ich einen grundlegenden Fehler: Ich hatte auf seine Frage und seinen Rat nicht genügend geachtet. Er hatte mich nämlich gefragt, ob ich einen Regenschirm dabei habe. Habe ich nicht, denn mit einem Regenschirm durch den Urwald zu balancieren, schien mir alles andere als praktisch, und eine Regenjacke tat es sicherlich auch. Nein, tat es nicht! Ich würde es noch am selben Tag bereuen. Denn am Tag unserer Ankunft in Masoala, bevor wir am nächsten Tag losliefen, gingen wir noch für eine Tour in den Wald. Sobald ich den ersten Fuss in das dichte Grün setzte, fing es an zu schütten, und genau als ich den ersten Schritt etwa 20 Minuten später wieder aus dem Wald trat, kam die Sonne wieder hervor. Ich war bis auf die Knochen nass. Als Armand uns erzählte, dass es eine Lemuren-Art gibt, die kein Wasser trinkt, fragte ich mich noch, wie das sein könnte. Jetzt ist alles klar. Wer muss schon extra vom Baum steigen, um Wasser zu trinken, wenn man praktisch vom Himmel ertränkt wird? Du könntest gar nicht nicht trinken, wenn du das wolltest. Also merkt euch, in den Regenwald geht man immer mit einem Regenschirm. Macht auch Sinn eigentlich. Es heisst schliesslich auch „Regen-Wald“. Es sieht auch ziemlich lustig aus, denn so folgte ich die nächsten fünf Tage einem vor mir auf- und ab wippenden schwarzen Regenschirm quer durch den Masoala Nationalpark.
Während unseres Trecks sagt Arman, „Mora Mora“, wir nehmen uns also die Zeit, und er erzählt uns beim Laufen von den Menschen die hier wohnen, von dem Reisanbau, den grossen Unterschieden der verschiedenen Reissorten, von den ganzen verschiedenen Bäumen und Pflanzen die angebaut werden, wie man gute Vanilleschoten erkennt, und was für die Bauern lohnt, und wo sie besser nicht die Bäume für Reis gerodet, sondern den Palisander gelassen hätten. Er wirkt wie das ideale Bindeglied zwischen der NGO Welt und dem Wunsch den Regenwald zu schützen und den lokalen Bauern und Bäuerinnen, die ihn zum Überleben nutzen.
Überhaupt sind die Begegnungen, die wir auf unserem Weg machen sehr speziell. Um diese aber wirklich nachvollziehen zu können, ist es wichtig die Festigkeit unseres Weges zu kennen. Es ist schlamm. Praktisch nur schlamm. Es regnet bis zu 6-mal pro Tag, es ist immer feucht, manchmal überqueren Flüsse und sind dabei bis zur Brust im Wasser, und dann geht es direkt weiter durch den Matsch. Als ich noch unwissend, und ignorant war, anfangs, zog ich mir die Schuhe aus jeweils, oder lief sogar barfuss. Ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Von da an trug ich meine Socken und Turnschuhe durchgehend, und genoss das kühle Nass, wenn wir vom Schlamm durch die Bäche wateten, auch wenn sich dabei Sand in meinen Schuhen ablagerte. So kamen wir auch schneller voran. Allerdings waren meine Turnschuhe nicht besonders vorteilhaft, da ich jeden Abend dann schrumpelige Füsse hatte und am nächsten Morgen in die noch immer Nassen Schuhe wieder hineinschlüpfen musste. Ich hatte noch nie meine früheren Klettverschluss-Sandalen so vermisst, und beneidete Armand um seine modernen Kroks, wie auch Nassan (unser Träger) um seine Plastik-Wassersandalen. Wir liefen dennoch eigentlich immer in einem guten Tempo, kamen auch gut voran, aber wurden immer, und ich meine wirklich immer, von allen anderen überholt. Und mir blieb jeweils der Mund offen stehen. Zum Teil waren es Jungs, welche an Bambusröhren aufgehängte Benzinkanister transportierten – etwa 40 Liter pro Kanister. Oder es waren Frauen, die einen riesigen Kübel mit getrocknetem Fisch, Kohle, Gemüsen, oder sonst Gepäck auf dem Kopf transportierten. Es waren Männer, die vom Holzschlag im Wald zu ihrem Dorf zurückliefen, oder was auch ganz toll aussah: Frauen trugen die Handtasche auf dem Koch und die Machete in der Hand. Auch beeindruckend war das junge Paar, welches unterwegs war nach Sambava (noch weiter als wir), und dabei ein Gepäckstück und ihr Baby abwechselnd trugen. Ein Kleinkind, welches einfach mitten durch den Urwald getragen wird. So absurd, und so unglaublich! Und dabei waren alle immer Barfuss, und in einem höllischen Tempo unterwegs. Nur wenn es wirklich schlammig wurde, mussten auch sie etwas vorsichtiger laufen. Dann überholten sie mich nur noch doppelt und nicht dreimal so schnell.
In den Dörfern, in denen wir vorbeikamen, erregten wir doch auch einiges an Aufsehen, denn Vazahs werden hier wohl doch nicht allzu häufig gesehen. Die Kinder begrüssten uns immer in einer Mischung aus grosser Aufregung, Schüchternheit und leichter Unsicherheit. Auch änderte sich die Stimmung von Dorf zu Dorf. Manchmal empfand ich es fast als ein wenig unheimlich, vor allem wenn plötzlich ein Zébu-Schädel aufgespiesst vor einer Hütte stand. Manchmal waren Dörfern von Wärme und Lachen, und regem Treiben gezeichnet. Mit Frauen, die den Reis fächerten, Bananen verkauften, während rundherum Kinder spielten. Unterwegs übernachteten wir in den kleinen Hotels in den Dörfern, und auch wenn es immer Feucht blieb, und meine Kleider nie ganz trocknen wollten, empfing mich fast immer ein gemütliches Bett. Unsere Köchin, die uns Begleitete war etwa in meinem Alter, und sie bekochte uns königlich. Wir assen oft zusammen mit Armand und den Trägern, und was die alles Essen konnten! Während ich zum Frühstück entweder Brot mit Aufstrich oder Pfannkuchen bekam, schaufelten sich die Madagassen schonmal einen riesigen Teller Reis rein – und dann noch einen zweiten. Ohne Reis hat man hier nicht gegessen, das ist so in der Gewohnheit, dass auch wenn man etwas anderes und zur Genüge gegessen hätte, man sich zu Hause noch einmal einen Teller Reis zubereiten würde. Also sah ich staunend und grinsend den anderen beim Essen zu, wenn sie wie ich hungrig zu Essen anfingen, aber die dreifache Ladung verputzten, wobei wir wahrscheinlich etwa gleich gross und gleich schwer sind.
Ja, so etwa waren diese Tage. Am vorletzten Tag laufen wir 9.5 Stunden, und am Morgen des letzten Tages laufen wir um 6 Uhr morgens los und schaffen die letzten 15 Kilometer durch den Schlamm in 3.5 Stunden. Ab diesem Dorf erwartet uns ein Schiff, und ich bin mehr als dankbar, mich in dem schmalen stählernen länglichen Kanu zu den anderen Passagieren zu setzten, und in der Sonne zu braten, während wir den letzten Teil den Fluss hinunter bis nach Antalaha tuckern. Eigentlich hätten wir ab hier wieder per Taxi-Moto unterwegs sein sollen. Aber der Weg war mittlerweile so schlammig, dass man auch hier jetzt beinahe bis zur Brust im Schlamm versank. Und so lassen wir nach und nach den Wald hinter uns, und irgendwann nach etwa 4 Stunden Flussfahrt sehe ich vor uns eine längliche Brücke und dahinter das Meer.
* Name geändert