Reisetagebuch, 3. Teil: Reise nach Fianarantsoa
Maeva* ist Praktikantin bei ADES und aktuell daran, in Madagaskar ihre Masterarbeit zu schreiben. Sie gibt uns Einblicke in ihre Erfahrungen.
Als wir am Donnerstag, dem 25. April, um 5:30 Uhr früh aufstanden, hatte die Infanterie gegenüber vom Hotel noch nicht zum Wecken trompetet. Mir war noch nicht klar, welch unglaubliche Fahrt mir bevorstand. Ich hätte es vielleicht ahnen können, als die lila-rosa Morgendämmerung sich in einen feuerroten Sonnenaufgang verwandelte, doch alles, was ich wusste, war, dass es viel zu früh am Morgen war und dass wir am Anfang einer 13-stündigen Autofahrt standen. Die ersten zwei Stunden sass ich noch hinten im Auto mit Luc, doch dann hatte ich den Beifahrersitz erobert, und das änderte sich auch nicht mehr für den Rest der Reise (und nein, Luc wollte nicht wechseln, ich habe ihn wirklich gefragt).
Ich werde es nicht wirklich in Worte fassen können, wie sich die Landschaft verändert, was man alles beobachtet, sieht, wie man die Veränderungen wahrnimmt: die Menschen, die Gerüche, das Schaukeln des Autos auf der staubigen Pistenstrasse, die leuchtend rote Erde, die das saftige Grün der Pflanzen und Reisfelder zum Pulsieren bringt, der trockene Wind, der immer mal wieder durch die Blätter rauscht, die lila Seerosen, die auf den frisch gesäten Reisfeldern blühen, die Felsformationen, die plötzlich meterhoch in den Himmel ragen und zum Klettern einladen, oder die einzelnen Bäume, die lang und einsam auf riesigen Ebenen stehen und erahnen lassen, wie gross und üppig der Wald hier einmal gewesen sein muss, bevor alles gerodet und abgebrannt wurde.
Wir sind lange unterwegs, und die ganze Zeit kann ich nur hinausschauen. Ich habe noch nie eine so lange Autofahrt so sehr genossen und so lange und gespannt einfach hinausgeschaut. Es wird mir nie langweilig, und stundenlang beobachte ich die vorbeiziehende Landschaft. Manchmal höre ich dazu etwas Musik (das Album „Tiako“ von Jaojoby), aber meistens staune ich einfach. Anfangs ist es lange hügelig und karg, mit einzelnen Palmen und Sträuchern. Hier begegnen uns morgens vor allem viele Fahrradfahrer, die zum Teil immense Ladungen an Brennholz, Kohle oder Gras transportieren. Gerade wenn man meint, jetzt sind wir wirklich abgelegen, hier ist doch nichts, genau dann kommt um die Ecke das nächste Dorf zum Vorschein. Und wirklich aus dem Nichts taucht es einfach auf, innerhalb von Sekunden. Nichts kündigt das an: Steine, Sträucher, Staub, bam – plötzlich sind da Strohhäuser, Tonhäuser, Gräber, ein Markt, eine Schule usw.
Das ist etwas, was mir wirklich aufgefallen ist: Wenn man mich in der Schweiz irgendwo auf einer Autobahn plötzlich absetzen würde, müsste ich wahrscheinlich eine ganze Weile laufen, bis mir jemand begegnen würde. Hier, entlang der Route Nationale 7, trifft man spätestens nach zehn Minuten garantiert jemanden an. Egal, wie weit wir fahren, immer ist irgendwo jemand unterwegs, auch wenn es noch so abgelegen aussieht. Wenn man hier verloren ginge, wäre man sicher nicht lange allein. Das finde ich irgendwie wunderschön. Und es führt auch zu einigen sehr lustigen Szenen. Einmal fahren wir auf einer sehr flachen, abgelegenen, trockenen und heissen Ebene entlang. Und unter einem der wenigen schattenspendenden Bäume sitzt eine Frau und telefoniert. Einfach so. Mitten im Nirgendwo.
Wir fuhren meilenweit über Flachland, vorbei an gelben Steppen, und die Berge sehen aus, als wären sie alle mit einem Messer oben flach abgeschnitten worden. Keine Baumgrenze, eine Berggrenze. Einmal habe ich das Gefühl, wir fahren auf genau so einer Berggrenze entlang und sehen bis an den Horizont trockene, rötliche, baumlose Landschaft. Wir fahren auch durch das Tal der Saphire, bekannt für seine Minen, in denen die begehrten kostbaren Steine abgebaut werden, und fahren über Brücken, in deren Flussbetten die Leute Gold schürfen. Und plötzlich ändert sich die Landschaft wieder und wir sind umgeben von Reisfeldern, der Weg ist gesäumt von Bäumen, oder wir begegnen einer «Herde» Baobabs. Auch das Baumaterial der Häuser verändert sich. Anfangs war es meist Blech, Holz oder auch lange Halme oder Palmblätter, dann gab es ab und zu Häuser aus Beton. Immer häufiger kam dann Lehm dazu oder wieder zurück zu Palmhütten. Diese erinnern mich teilweise an die Geschichte vom Wolf und den drei kleinen Schweinchen, wo ich auch denke, einmal Husten und Pusten würde reichen, aber die meisten scheint es schon einige Jahre zu geben. Was man allerdings nie sieht, sind Glasscheiben. Es gibt Fensterläden, Vorhänge, Tücher, die als Tür dienen, aber kein einziges Mal ein Glasfenster. Die schönsten und meist am aufwändigsten geschmückten Gebäude sind ausnahmslos entweder die Kirchen oder die Gräber. Sogar in einem winzigen Dorf, in dem alle Hütten aus Stroh oder Lehm bestehen, steht eine grosse, rot gestrichene Kirche aus Beton. Das zeigt eigentlich gut, wie an vielen Orten in Madagaskar die Toten manchmal immer noch mehr Macht besitzen und über die Lebenden herrschen.
Die Tiere, die mich seit meiner Ankunft am meisten begeistern, sind die Hühner hier. Im Vergleich dazu können unsere Hühner einpacken. Die hier sind ihnen evolutionstechnisch weit überlegen! Die hiesigen sind langbeinige Hühner, die aussehen, als wären es Staffelläufer. Mit langen, scharfen Krallen, wie sie sonst nur in Nagelstudios gefeilt werden – es fehlt nur die Farbe. Am häufigsten kann man sie bei ihren wagemutigen Sprints über die Hauptstrasse beobachten, was, wie ich vermute, zu dieser körperlichen Weiterentwicklung beigetragen hat. Sie stehen für mich familiär den Straussen näher als unseren Hühnern. Ich befürchte allerdings auch, dass die Hühner, welche sich dieser Sportart nicht angepasst haben, wohl ganz darwinistisch früher ihr Ende fanden.
Aber am meisten liebe ich es doch, den Menschen zuzuschauen. Kinder, die im Fluss baden, Frauen, die waschen oder ein Feld bestellen, oder auf einer Strasse, die bis zum Horizont führt, entlanglaufen und dabei riesige Lasten freihändig auf dem Kopf transportieren. Immer wieder hätte ich so Lust anzuhalten, auszusteigen und ihnen nachzugehen, ebenfalls einmal in einem Reisfeld zu stehen, den Reis fächernd in die Luft zu werfen und wieder zu fangen, mich mit ihnen unterhalten zu können, mit auf einem von Zebus gezogenen Karren zu sitzen oder einem Kind in dessen Küche zu folgen, wo es nach Essen riecht. Das sind alles sehr romantische und wenig anhaltende Vorstellungen, das ist mir bewusst, aber so, so gerne hätte ich mehr Zeit gehabt, in diese Leben einzutauchen und ein bisschen daran teilhaben zu dürfen. Doch unser Auto fährt weiter und der Augenblick zieht vorbei.
Als es dämmert und Nacht wird, wird es wirklich dunkel. Es gibt kaum Lichter, ganz zu schweigen von Strassenlaternen. Es ist etwa 18 oder 19 Uhr und wir sind noch immer unterwegs. Wir treffen immer weniger Leute auf der Strasse, und unser Fahrer fährt wesentlich vorsichtiger, denn die Menschen, die jetzt erst vom Feld nach Hause kommen oder noch unterwegs sind, sieht man fast nicht. Immer mal wieder blitzt ein Feuerschein aus einem der Hauseingänge hervor, oder schwaches, bleiches Neonlicht, von Solarzellen generiert, erhellt eine Terrasse oder eine Küche. Der Tag geht zu Ende und das merkt man. Dennoch ist irgendwie noch immer Leben in der Luft. Es wird zum Abendessen gerufen, man hört Geschirr klirren, und auch Musik kommt noch von irgendwoher. Aber ich vermute, dass alles bald eher dem Bett zusteuert, da der Tag mit dem ersten Licht wieder beginnt. In Toliara war abends, auch bei Dunkelheit, auf den Strassen noch viel los, logisch, da gab es auch Licht, Strom und Menschen. Doch hier draussen kehrt immer mehr Ruhe ein.
Man soll hier nachts nicht fahren, dafür gibt es diverse Gründe. Einer davon begegnet uns jetzt immer mehr. Die Taxi-Brousse (kleine Minivans, oft völlig überladen, sind das meistgenutzte Transportmittel zwischen den Orten) haben mehrheitlich kein Licht. Auch die grossen, farbigen Camions haben, ausser einigen übertrieben beleuchteten Ausnahmen (einer kam uns entgegen mit Lichtern in der Form der Maske von Darth Vader), meistens einen kaputten und einen beschädigten Scheinwerfer, der ganz schwach seine Präsenz verrät. Aber damit ist für viele noch nichts verloren, wo ein Wille ist, ist ganz offensichtlich auch ein Weg. Denn anstatt die Scheinwerfer zu reparieren, haben sich einige ganz schlaue Erfinder so etwas wie Velolichter vorne an das Auto befestigt. Das heisst, sie selbst sehen und erleuchten eigentlich nichts, aber die, die ihnen entgegenfahren, sehen jetzt rot und grün blinkende Christbaumlichter, die sich langsam über die von Löchern übersäte Piste bewegen. Doch glücklicherweise dauert es nicht mehr lange, und schliesslich schlängeln wir uns durch die hügeligen Strassen von Fianarantsoa, bevor wir im Hotel ankommen.
* Name geändert