Reisetagebuch: Erste Tage in Tana
Maeva* ist Praktikantin bei ADES und aktuell daran, in Madagaskar ihre Masterarbeit zu schreiben. Sie gibt uns Einblicke in ihre Erfahrungen.
Schon beim Verlassen des Flughafens nach unserer Ankunft aus der Schweiz ist es mir aufgefallen. Es war, als ob ein Schleier sich lüftet, oder als würde man die getönte Autoscheibe herunterkurbeln. Oder wie beim Abnehmen einer Skibrille, wenn plötzlich die Welt eine andere Farbe annimmt. Die Farben in Madagaskar scheinen aus einem ganz anderen Element zu stammen. Die Reisfelder leuchten lebendig grün, der Boden wirkt irgendwie erdig und rot, dass einem der Mund trocken wird, wenn man zu lange hinschaut. Der Himmel erscheint mir näher und die Menschen greifbarer und präsenter. Es riecht nach Feuer und Rauch. Auf dem Weg in die Stadt werden entlang der Strasse überall Haufen mit verschiedensten Dingen angezündet und verbrannt, und gleichzeitig erfüllt die Luft eine Vielzahl von Gerüchen und Düften, die mich innehalten lassen, während ich angestrengt versuche, sie zuzuordnen. Mal fühlt sich die Luft auf der Haut stickig und klebrig an, trotz der Höhenlage von Tana, mal ist sie zart und streichelt mit einer erfrischenden Brise eine Strähne aus meinem Gesicht und kühlt meine Stirn. Es ist, als würde man in eine andere Welt eintauchen, doch der Übergang ist nicht sanft. Es fühlt sich an, als wäre ich herausgerissen und an einem anderen Ort wieder hingepflanzt worden. Und in gewisser Weise ist das auch tatsächlich geschehen. Ich bin mir nicht sicher, ob es klug war, dass die Menschen das Flugzeug erfunden haben und somit die Erde in wenigen Stunden überqueren können. Dabei überspringt man alles, was dazwischen passiert, sich wandelt, verändert. Es fühlt sich also an, als wäre ich auf einem nahen, aber dennoch ganz fremden Planeten gelandet, und gleichzeitig ist es, als wäre ich plötzlich in der Realität angekommen. Fernab von den sauberen Schweizer Strassen, dem strukturierten Verkehr, wo Fahrbahnen nicht als Empfehlung, sondern als Grenzen betrachtet werden, wo die meisten Bettler mindestens 20 Jahre alt sind, Häuser gehorchen aufgereiht sind und in matten Farben gestrichen sind, und wo eine allgegenwärtige und ordentliche Verwaltung herrscht. Die Schweiz erscheint mir gerade wie eine Folge von Black Mirror, in der wir zwar eine insgesamt sehr hohe Lebensqualität haben, aber alle Menschen mit Kopfhörern ihre Umgebung ausblenden oder auf ihre Bildschirme starren. Wo persönliche Interaktionen auf Freunde und Familie oder Transaktionen beschränkt sind. Wo dieser privilegierte Zustand irgendwann zur Normalität wird, und wir uns daran gewöhnen, während wir uns auch bewusst sind, dass es nicht überall so ist. Ich zähle mich auch dazu. Doch wie seltsam und paradox ist es, wenn die Ausnahme – der Bruch dieser Normalität (meine Reise) – sich plötzlich wie die Wirklichkeit anfühlt, und der Alltag, den ich normalerweise lebe, surreal wird. Er fühlt sich weniger real an, verschwommen, wie in Trance, und plötzlich bin ich hellwach. Dies liegt sicherlich auch daran, dass ich hier gerade so viel Neues auf einmal erlebe, und es deshalb viel intensiver und deutlicher in meinem Kopf gespeichert wird, als alles Bekannte, das ich schon kenne. So verschwimmt das letzte Jahr, die letzten Monate in der Schweiz zu einem unscharfen Gedanken, während hier jede Sekunde nachhallt, Platz in meinen Erinnerungen einnimmt und scharf fokussiert ist. Das Gute, Warme, Lachende, Aufregende und Neue, genauso wie das Dunkle, Hilflose, Herzzerreissende und alles, was enorm schwierig auszuhalten ist.
Während eines Spaziergangs durch die Stadt unter einigen Jacaranda-Bäumen entlang rennt plötzlich ein Mädchen, etwa 8 Jahre alt, zwischen zwei grossen metallenen Müllcontainern hervor. Verblüfft registriere ich erst durch einen zweiten Blick und den Ruf, der ihr hinterher folgt, die Mutter, die in dem Spalt dahinter sitzt, ein Tuch gerade zusammenlegt, und deren Zuhause ich gerade hineingeschaut habe. An dem steilen, staubigen Weg hinab zur Hauptstrasse, wo grosse Autos ziemlich schnell über die Pflastersteine holpern, liegen oder sitzen immer wieder Menschen am Strassenrand. Während man in anderen Städten beobachten könnte, wie Strassenkatzen sich unter einer dreckigen Decke zu ihren Müttern zwängen, um Nähe und Wärme zu suchen, sind es hier kaum 2-jährige Kinder.
Am ersten Tag nach unserer Ankunft fuhren wir ins Büro von ADES. Ein Fahrer holte uns ab und kämpfte sich durch den Verkehr am Anosy-See vorbei und am Stadion entlang. In einer geschäftigen Seitenstrasse, wo viele Leute meterlang Schlange stehen, um den gelben Bus mit dem blauen Streifen zu erwischen, drängen wir uns durch eine rote Einfahrt zum Büro. Es ist ein ockerfarbenes Haus mit einem kleinen Garten. Es hat einen leeren, noch unfertigen Swimmingpool, wunderschöne Blüten des Bougainvillea und anderer Pflanzen, die ich nicht benennen kann. Wir werden sofort sehr freundlich empfangen und herumgeführt, dürfen alle begrüssen. Die Namen kann ich mir noch nicht alle merken, aber es ist toll, so vielen Menschen zu begegnen, die für ADES arbeiten, vor allem denen, mit denen ich schon online Kontakt hatte. Sich plötzlich gegenüberzustehen, ist doch etwas ganz anderes; man lernt so viel mehr über eine Person. Wir werden auch gleich zum Mittagessen eingeladen. Das ganze Team isst wie gewohnt gemeinsam im Konferenzsaal. Ich hatte den dampfenden Topf, der selbstverständlich auf dem ADES OLI-Herd kochte, schon am Morgen bemerkt. Es gibt eine typisch madagassische Portion, das heisst, einen riesigen Berg Reis mit etwas zerstampften Kartoffeln und Salat. Dazu trinken wir warmes Reiswasser, das noch leicht verbrannt schmeckt. Erst am zweiten Tag lerne ich, wie ich höflich meine Portion etwas verringern kann, ohne etwas übrig zu lassen. Der anschliessende Kaffee schmeckt auch ohne Zucker süss, und ich kann ihn schwarz trinken, obwohl ich gewohnt bin, immer Milch dazuzugeben. Es gibt immer mal wieder gemütliche Gespräche, mal im Gang, mal in der Küche, oft auch draussen. Man merkt, dass das Büro in Tana gut eingespielt ist. Man geht freundlich und vertraut miteinander um, alle sind per du, und es ist einfach, mich rasch irgendwie diesem Rhythmus anzupassen und mich einzufinden, obwohl wir schon nach unserem zweiten Tag weiter nach Toliara reisen.
Wir speisten an unserem letzten Abend in Tana in einem sehr schönen Restaurant zu Abend. Ein Hauptmenü mit Fleisch, Wein und Rum zum Dessert kostete vielleicht 50’000 Ariary pro Person – das entspricht etwa 10 Franken. Während ich am Tisch sass und mit dem Fuss meines Weinglases spielte, sassen draussen vor meinem Fenster auf der gegenüberliegenden Strassenseite vier Kinder. Ich betone bewusst „Kinder“, denn die in Decken gehüllten Mädchen, mit denen sie ihre Babys umwickelten und um 21 Uhr abends auf der Strasse bettelten, waren maximal halb so alt wie ich. Ich beobachtete sie einen Moment, bis sie mich auch bemerkten. Doch einmal Blickkontakt hergestellt ist, schaut man auch immer mal wieder hin. Sie streckten mir die Hand entgegen, zeigten auf sich und auf die Kinder. Und ich sass da, drinnen, in der Wärme, an einem Tisch mit weisser Tischdecke, einem kleinen und einem grossen Weinglas, einem leeren Brotkörbchen, als der Kellner die Dessertkarte brachte. Ich versuchte irgendwie entschuldigend mit den Achseln zu zucken, fühlte mich aber selbst dabei kläglich. Ich schaute weg und versuchte, mich wieder in das Gespräch am Tisch zu integrieren. Am benachbarten Tisch sass ein rauchender Weisser, etwa 40 Jahre alt, ihm gegenüber ein madagassisches Mädchen. Sie sah aus wie 16.
Ich schaute wieder hin. Sie hielten meinen Blick fest, vor allem das Mädchen mit einem schwarzen Kapuzen-Jäckchen und grossen Augen. Sie hatte mich als Erste wieder bemerkt, als ich wieder zurückgeschaut hatte. Wir sahen uns an, getrennt durch eine Glasscheibe und doch Welten voneinander entfernt. Als wir aufstanden, um zu gehen, warteten sie schon an der Tür. Ich lief hinter den anderen her, versuchte geradeaus zu schauen, ohne zu sehr zu interagieren oder innezuhalten. Vor allem Kindern Geld zu geben, vergrössert und unterstützt die Kinderarbeit, die in Tana existiert und ausgenutzt wird. Oder rede ich mir das nur für mein Gewissen ein? Ich fühlte mich hilflos, und sie waren machtlos. Oder war es umgekehrt? Ergibt das Sinn? Ich fühlte mich der Hilflosigkeit, die mir begegnete, ausgeliefert. Obwohl sie es doch eigentlich waren, die hilflos waren, kam ich mir machtlos vor.
Als wir zurück ins Hotel kamen, seufzte ich schwer. Ich hatte eine Schwelle überschritten, die der Normalität nahe kommt, die mir vertraut ist. Hier konnte ich der Konfrontation mit dieser Realität entkommen. Doch als ich die Treppen hinauf in mein Zimmer stieg, führten mich meine Gedanken über die Pflastersteine zurück nach draussen, in die Nacht, zu den Kindern, den jungen Frauen, dem Mädchen mit dem schwarzen Kapuzen-Jäckchen.
* Name geändert
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